Frau Inge Richter gratuliert:

Persönliche Gedanken

zum Jubiläum der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden'

Zum 50. Mal seit 1985 erscheint heute die Zeitschrift 'Selbstbewußt werden'. Die Informationen für Gehörlose und Hörende stammen von Betroffenen und Nichtbetroffenen, von Fachleuten und Laien, vor allem aber von den allerwichtigsten Experten in Sachen "Taubheit", nämlich von den Gehörlosen selbst. So bunt wie die Autorenschar, so bunt ist auch der Reigen der Meinungen, die mal sachlich, mal polemisch, zustimmend oder kritisch geäußert werden. Aber eines kann man den Beiträgen nicht nachsagen: Daß sie den Leser gleichgültig lassen. Wie oft hat ein kritischer Artikel oder eine Karikatur Wirbel verursacht, sei es bei den Gehörlosen, bei den Pädagogen und anderen Fachleuten oder gar bei den Politikern. So hat sich die Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' einen festen Leserkreis erobert. Inzwischen kann niemand, der wissen möchte, was die Gehörlosen selbst denken, auf die Zeitschrift verzichten. Diesen durchschlagenden Erfolg hat sich Gertrud Mally, die Initiatorin und erste Herausgeberin der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' 1985 sicher nicht träumen lassen!

Das Jubiläum weckt bei mir persönliche Erinnerungen. Als ich in den 70er Jahren mit Gertrud Mally zusammentraf, waren wir uns schnell einig: Die Gehörlosen müssen aufwachen und selbstbewußter werden!

Sowohl Gertrud Mally als auch ich waren damals streng oral erzogene junge gehörlose Frauen. Wir hatten das Bildungsziel der Gehörlosenpädagogik verinnerlicht, uns soweit wie möglich den Hörenden anzugleichen. Nur so ist es zu erklären, daß Gertrud Mally einmal in der Lautsprache einen Vortrag für Gehörlose hielt, den sie in die Gebärdensprache dolmetschen ließ! Ich hingegen hatte die Gebärdensprache, welche ich während meiner Schulzeit in der Gehörlosenschule gut beherrscht habe, bedingt durch den gemeinsamen Schulbesuch mit Hörenden weitgehend verlernt. Zu den Gehörlosen hatte ich kaum noch Kontakt. Langsam erkannte ich aber, daß zur Entwicklung einer gesunden Identität nicht nur die Annahme der Gehörlosigkeit, sondern auch der Kontakt zur Gehörlosengemeinschaft gehört. Ich meldete mich daher für einen Gebärdenkurs an der Volkshochschule an. Wie es der Zufall wollte, war es der allererste Gebärdenkurs, den Gertrud Mally leitete, und ich war die einzige gehörlose Teilnehmerin! Es konnte nicht ausbleiben, daß wir viele Erinnerungen an unsere Schulzeit austauschten: Wie die Gebärden im Unterricht verboten wurden, wie wir auf dem Pausenhof gebärdet haben, wie wir es vermieden, in der Öffentlichkeit zu gebärden, weil wir uns unserer Gebärden schämten. Wir wußten als Kinder beide nicht, daß es gehörlose Erwachsene gibt, weil wir keine kannten.

Auf dem Weltkongreß der Taubstummenlehrer (wie sie sich damals noch nannten) 1980 in Hamburg waren wir fünf deutsche gehörlose Teilnehmer. Wir mußten erneut miterleben, wie sehr die Gebärdensprache durch die deutsche Gehörlosenpädagogik abqualifiziert wurde. Den Referaten konnten wir kaum folgen, weil uns nur eine einzige Dolmetscherin zur Verfügung stand. Sie gab sich viel Mühe, war aber mit dem Niveau der Vorträge überfordert. Es war für uns wie eine Offenbarung, als der gehörlose Vizepräsident der Amerikanischen Taubstummenlehrervereinigung seinen Vortrag in der Gebärdensprache hielt mit Simultanübersetzung in die Lautsprache. Ein Gehörloser steht auf dem Podium! Er hält einen Vortrag in der Gebärdensprache! Er wird als Fachmann von den Hörenden anerkannt!

Damals fuhr ich sehr aufgewühlt nach Hause. Es war für mich keine Frage, daß sich auch in Deutschland etwas ändern muß. Doch wie kann die Anerkennung der Gebärdensprache durchgesetzt werden? Obwohl ich sehr gut ablesen und in einer kleinen Gesprächsrunde mit den Hörenden gut lautsprachlich kommunizieren kann, sind mir meine behinderungsbedingten Grenzen deutlich bewußt. Beispielsweise ist die aktive Teilnahme an einer Diskussion nach einem Vortrag oder in einem großen Gesprächskreis nur mit Hilfe eines Dolmetschers möglich. Dolmetscher gab es aber damals in Deutschland nur sehr wenige und diese waren schlecht ausgebildet. Nur die Anerkennung der Gebärdensprache und qualifizierte Dolmetscher ermöglichen es den Gehörlosen, sich in der Gesellschaft zu Wort zu melden, ihre Forderungen anzumelden und an gesellschaftlichen Fragen aktiv mitzuwirken. Diese Fragen wurden im Freundeskreis heftig diskutiert, wobei vor allem Gertrud Mally voller Ideen sprühte.

So konnte es nicht ausbleiben, daß in den frühen 80er Jahren zuerst Gertrud Mally, später die gehörlose Fachlehrerin Inge Fürsich-Eschmann, die hörende Studentin der Gehörlosenpädagogik und spätere Gebärdensprachdolmetscherin, Eva Richter, ich, und noch später andere Münchner Freunde nach Bad Godesberg zu den Gesellschaftspolitischen Tagungen für Gehörlose und Hörende fuhren. Initiator und Tagungsleiter war Friedrich Wilhelm Jürgens, Gehörlosenlehrer aus Hildesheim. Er ermutigte die gehörlosen Teilnehmer, ihre Forderungen gegenüber den Politikern selbständig durchzusetzen. Das wird immer das Verdienst von Friedrich Wilhelm Jürgens bleiben! Daß mich die gehörlosen Tagungsteilnehmer drängten, die Tagungsleitung mit zu übernehmen, war für mich ein völlig unerwarteter "Nebeneffekt". Voller Begeisterung und Idealismus versuchten wir "alte Zöpfe" abzuschneiden, die Rechte der Gehörlosen auf ihre eigene Sprache, die Gebärdensprache, einzufordern, neue Bildungsziele im Unterricht anzudenken, sozialpolitische Forderungen durchzusetzen wie z. B. das Recht auf Freifahrt für Gehörlose oder mehr Untertitel im Fernsehen.

Auf diesen Tagungen wurde aber sehr schnell deutlich, daß die gehörlosen Teilnehmer zwar über ein überdurchschnittliches Bildungsniveau verfügten, jedoch den Hörenden rhetorisch unterlegen waren. Wir wußten sehr wohl, was wir wollten, was wir fordern müssen, doch wir waren es nicht gewöhnt, diese Forderungen zu formulieren und in heißen Diskussionen unsere Argumente sachlich zu vertreten. Um diesem Manko abzuhelfen, initiierte ich damals in Zusammenarbeit mit Rudi Sailer, Geschäftsführer des

Gehörlosenverbandes München und Umland e. V., Rhetorikseminar für Gehörlose. Diese wurden zu einem durchschlagenden Erfolg.

Ein anderes Problem war und ist die Scheu gehörloser Menschen, sich schriftlich auszudrücken. Sie schämen sich wegen der fehlerhaften Grammatik und den unsicheren Gebrauch der Begriffe. Noch heute muß Ich erleben, wie z. B. intelligente gehörlose Menschen Briefe an ihre Eltern (!) Hörenden mit der Bitte um Korrektur vorlegen! Auch hier rebellierte Gertrud Mally gegen die Abhängigkeit von den Hörenden, indem sie beschloß, ihre schriftlichen Äußerungen nicht mehr korrigieren zu lassen. Immer wieder wies sie darauf hin, wie sehr Hörende irritiert sind, wenn sie zuerst den fehlerfreien Brief eines Gehörlosen erhalten, um dann im persönlichen Kontakt mit ihm feststellen müssen, da er sich grammatikalisch nicht korrekt ausdrücken kann und Schwierigkeiten beim sinnerfassenden Lesen hat. Dazu gibt es auch unter den Gehörlosen unterschiedliche Auffassungen. Doch wir waren uns einig, daß wir alles tun müssen, um Gehörlose zu ermutigen, sich schriftlich auszudrücken. Zu einem unerwarteten Verbündeten wurde damals das gerade aufgekommene Schreibtelefon, welches sowohl Gehörlose als auch Hörende zwingt, sich schriftlich auszudrücken. Daß übrigens auch Hörende mit der Schriftsprache auf dem Kriegsfuß stehen und Hemmungen haben können, habe ich im Berufsleben erfahren. So war der Einsatz des Schreibtelefons für mich im Nachtdienst erst möglich, als ich das Pflegepersonal dahingehend beruhigen konnte, daß es mir nicht auf die richtige Schreibweise und die Grammatik, sondern auf die korrekte Übermittlung der Information ankommt! Heute ist das Fax, welches uns ebenfalls zu einem schriftlichen Ausdruck zwingt, aus dem Alltag von Gehörlosen und Hörenden nicht mehr wegzudenken. Die in den Diskussionen gewonnenen Ansichten über den Gebrauch der Schriftsprache sollten sich später bei der Herausgabe der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' als sehr wichtig erweisen.

An der Volkshochschule wurden die Gebärdenkurse von Gertrud Mally von den Hörenden geradezu gestürmt. In mühsamer Kleinarbeit und hoher finanzieller Eigenbeteiligung entwickelte sie didaktisches Unterrichtsmaterial (herausgegeben unter dem Titel "Die Sprache der Hände"), welches später vielen Gebärdenkursleitern als Unterrichtsgrundlage diente. Damit die Hörenden ihre frisch erworbenen Gebärdenkenntnisse auch einsetzen konnten, entstand der Stammtisch für Hörende und Gehörlose. Daraus entwickelte sich schließlich das erste "Kommunikationsforum" (Kufo) im Bundesgebiet. Auf einem Diskussionsabend wurde deutlich, daß zwar sehr viel über Gehörlose aus der Sicht von Hörenden geschrieben wird, von Gehörlosen selbst praktisch keine Veröffentlichungen vorliegen. Dies war die Geburtsstunde der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden', die von Gertrud Mally im Dezember 1985 zum ersten Mal herausgegeben wurde.

Die Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' war von Anfang an eine besondere Zeitschrift: Zum ersten Mal meldeten sich viele Gehörlose zu Wort. Ihre Artikel wurden nicht oder kaum korrigiert veröffentlicht. Wahrscheinlich sind Gehörlose die einzige Behindertengruppe, die sich oft bis ins hohe Alter "Verbesserungen" gefallen lassen muß, indem sie von Hörenden aufgefordert werden "lauter" oder "deutlicher" zu sprechen. Ihre schriftlichen Äußerungen rufen oft Kopfschütteln hervor. Nicht selten müssen Gehörlose erleben, daß sie überhaupt nicht verstanden werden. Dadurch können sie im Umgang mit Hörenden oft wenig Selbstbewußtsein entwickeln, müssen ständig gegen Minderwertigkeitsgefühle und Vorurteile ankämpfen. Wie oft müssen Gehörlose im Alltag erkennen, daß sie unter Hörenden bei einem schnellen Informationsaustausch benachteiligt werden, daß sie sich nicht zu Wort melden können, daß sie übersehen werden und deshalb nicht selten als "dumm" eingeschätzt werden. In der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' wird plötzlich ihre Meinung wichtig, sie sehen ihre Auffassung schwarz auf weiß gedruckt und erleben die Reaktionen auf ihre Ansichten. Insofern trägt die Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' wirklich zu einem besseren Selbstbewußtsein bei.

In der Gehörlosengemeinschaft hat ein enormer Bewußtseinswandel stattgefunden. Die Gehörlosen sind selbstbewußter geworden. Dazu hat auch die Forschung der Gebärdensprache, angestoßen durch Prof. Prillwitz, nicht unerheblich beigetragen. Eine kritische Generation gut ausgebildeter junger gehörloser Menschen ist nachgewachsen. Diese Gehörlosen sind bereit, Verantwortung für sich, aber auch für die Gehörlosengemeinschaft zu übernehmen und auch politisch durchzusetzen. Auf der anderen Seite müssen noch viele Aufgaben von der Gehörlosengemeinschaft bewältigt werden. Durch medizinische, technische, pädagogische und gesellschaftliche Entwicklungen ist die Gehörlosengemeinschaft vielfältiger geworden. Da sind die älteren streng oral erzogenen Gehörlosen, die oft Mühe haben, die sehr differenzierte Deutsche Gebärdensprache (DGS) zu verstehen. Da sind die mehrfachbehinderten Gehörlosen mit ihren besonderen Lebensproblemen. Da ist die besondere Problematik der CI-Kinder, deren Identitätsentwicklung bis heute noch nicht geklärt ist, die aber von der Gehörlosengemeinschaft nicht ausgegrenzt werden dürfen, sondern im Gegenteil besondere Unterstützung bei der Aufnahme in die Gemeinschaft benötigen. Aber auch die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Lage mit ihren Sparzwängen und der neu aufkeimenden Behindertenfeindlichkeit geht nicht spurlos an der Gehörlosengemeinschaft vorüber.

Ich wünsche daher der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden', daß sie diese Strömungen ihren Lesern gut verständlich darstellen kann, daß Artikel nicht "über die Köpfe der Gehörlosen" hinweg geschrieben werden. Mögen ihre Beiträge auch in den nächsten Jahren wichtige Impulse für neue Entwicklungen geben. Dies kann aber nur gelingen, wenn auch in Zukunft möglichst viele Gehörlose ermutigt werden, sich selbst kritisch zu Wort melden. Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle meiner Freundin, Gertrud Mally, für ihre Pionierarbeit herzlich zu danken. Der Zeitschrift 'Selbstbewußt werden' und ihrem bewährten, engagierten Schriftleiter, Herrn Gerhard Wolf, gratuliere ich zum Jubiläum und wünsche weiterhin viel Erfolg!

Dr. Inge Richter (gl), Nervenärztin

Leiterin der Abteilung für psychisch kranke Hörgeschädigte

Klinikum am Europakanal, Am Europakanal 71, 91056 Erlangen