Herr Manfred Hintermair gratuliert:

Zum 50. Mal "selbstbewußt werden"

- wahrlich ein Grund zum Feiern

Wer ins Jahr 1985 zurückdenkt, wird schnell feststellen, daß damals die Gründung einer eigenen Zeitschrift durch Gehörlose einer Sensation gleichkam. Das Münch-ner Gebärdenpapier war zwar schon drei Jahre alt, aber die Landschaft der Gehörlosenpädagogik hatte sich doch noch nicht so weit verändert, daß man den Meinungen Betroffener ein offenes Ohr (oder Auge) schenken wollte und daß dies auch gleich noch in gedruckter Form geschehen müßte. Man kann sich deshalb aus heutiger Perspektive gar nicht mehr so recht vorstellen, welcher Energieleistung und welchen Muts es bedurfte, um ein eigenes Blatt auf den Markt zu bringen, in dem selbst Betroffene ein Forum bekamen, sich mit ihren ureigensten Wünschen, Bedürfnissen, vor allem aber auch in den ersten Jahren mit ihren Sorgen, Nöten und Erfahrungen zu Wort zu melden. Dank gilt deshalb an dieser Stelle in erster Linie Gertrud Mally, der Gründerin und jahrelangen Schriftleiterin von 'sbw' für diesen wichtigen Schritt.

So ist nun über fünfzehn Jahre in der Tat ein Selbstbewußtsein gewachsen, das anfangs hart erkämpft werden mußte und heute wiederum fast schon selbstverständlich ist. 'sbw' hat dazu beigetragen, daß gehörlose Menschen ungefiltert und unzensiert - d.h. auch nicht schriftsprachlich korrigiert, was anfangs ein Affront für viele hörende Pädagogen war - ihre Meinung zu zentralen Aspekten ihres Lebens zum Ausdruck bringen konnten. Das war nicht immer leichte Kost für Hörende: Viele von ihnen fühlten sich angegriffen, falsch verstanden, auch provoziert, fühlten sich in ihrer Rolle als "Helfer", die sie über viele Jahre wie selbstverständlich wahrgenommen hatten, irritiert. Undankbarkeit wurde den Gehörlosen zum Teil unterstellt, sich so zu äußern; zudem sei die Fähigkeit, sich so zu Wort zu melden, doch erst möglich geworden, weil die Hörenden ihnen die sprachlichen und andere Mittel dazu an die Hand gegeben hätten. Warum dann diese "Undankbarkeit", mit der sich Gehörlose z. B. ihrer schulischen Erfahrungen erinnerten und dies auch noch zu Papier brachten? Auf einmal schien die Welt der hörenden Gehörlosenpädagogik doch nicht mehr ganz so in Ordnung zu sein, wie es lange Zeit den Anschein hatte. Und doch liegt in dieser Kritik und ihrer konstruktiven Annahme die Chance und der Weg für eine andere, eine neue, eine ausbalancierte Ordnung, in der sich hörende und gehörlose Welterfahrung treffen und sinnvoll integrieren können.

Die Provokation durch einzelne Artikel in 'sbw' hat im Laufe der Zeit auch Spuren gelegt für die gehörlosen Leser/innen auf der Suche nach echten, authentischen Erfahrungen, mit denen sie sich wirklich identifizieren konnten. 'sbw' ist somit auch ein Beitrag zur Identitätsarbeit gehörloser Menschen, indem sie - oft sehr persönliche und kontroverse - Meinungen bereitstellt, die zur Auseinandersetzung mit sich selbst anregen.

Es ist mittlerweile durchaus wichtig und zum Teil selbstverständlich geworden, Betroffene auf Kongressen, etc. zu Wort kommen zu lassen, es gibt Autobiographien (vgl. das Buch von Ernmanuelle Laborit oder von Mark Drolsbaugh), etc.. Man sieht daran, daß echte Mündigkeit - und das will ja die Pädagogik u.a. mit ihrer Erziehung - die Stimme der Betroffenen braucht, andernfalls bleibt immer der fade Bei-
geschmack der Bevormundung und Einseitigkeit. Auch hier ist der Stellenwert einer Zeitschrift wie 'sbw' zu sehen, eben Position(en) zu beziehen. Da müssen dann auch mal die Fetzen fliegen. Doch genau das belebt eben auch die Diskussionen bei Fragen der Erziehung gehörloser Menschen, die bis zu Beginn der 80er Jahre nahezu ausschließlich von den Hörenden mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen, ihrer Meinung, über Gehörlose bestimmt waren.

Auch ich selber finde nicht jeden Artikel in der Zeitschrift treffend oder einer Sache angemessen, aber das ist ja bei Zeitschriften, die von Hörenden herausgegeben werden, auch nicht anders. So gesehen habe ich 'sbw' immer auch als kleinen Beitrag zu einer veränderten Diskussions- und Streitkultur in unserem Fach erlebt. Man wurde wahrlich oft zum Nachdenken angestoßen, manchmal auch vor den Kopf gestoßen, immer aber waren es Beiträge (zumindest für mich!), die animiert haben zur Auseinandersetzung. Die Emanzipation der Gehörlosen hat in dieser Zeitschrift 'sbw' ein kleines Symbol gefunden. Sie kann nicht und will auch nicht mit dem großen Bruder "Das Zeichen" aus Hamburg konkurrieren. Das muß auch gar nicht sein: Die Absichten sind andere, die Ziele die gleichen: Nämlich gehörlose Menschen zur Sprache zu bringen in ihrer Sache!

Es ist klar, daß die "Power" der Anfangsjahre ein wenig nachgelassen hat. 'sbw' ist etwas abgeklärter geworden, was ich persönlich manchmal etwas schade finde. Aber es läßt sich über 15 Jahre nicht die gleiche Energieleistung aufrechterhalten. Ich wünsche der Zeitschrift eine gute Zukunft: Sie ist ein kleiner, aber wichtiger Mosaikstein geworden für die Gehörlosen auf ihrem Weg zu einem selbstbestimmten Leben.

München, den 19.2.99

Prof. Dr. M. Hintermair (h), Pädagogische Hochschule Heidelberg, Zeppelinstraße 3, 69121 Heidelberg