aus der Zeitschrift:
Horizonte, März 1999 - Psycholinguistik
des Schweizerischen Nationalfonds

Von Christoph Dieffenbacher
Fotos Dominique Meienberg

Tanzende Hände in Multimedia

Jahrzehntelang galt die Gebärdensprache der Gehörlosen in der Gesellschaft als minderwertig, sie wurde sogar verboten. Dann hat die Forschung bewiesen, dass sie eine vollständige Sprache mit komplexen Strukturen ist. Ein Team von Gehörlosen und Hörenden arbeitet jetzt an der ersten multimedialen Gebärdensprach-Datenbank der Schweiz.
"Die junge Tennisspielerin hat viel Erfolg und macht eine steile Karriere": ein Satz in Deutschschweizer Gebärdensprache, gezeigt von Claudia Jauch.

In einem engen Büroraum in Zürich Oerlikon besprechen Jovita Lengen, Claudia Jauch, Gian-Reto Janki und Brigitte Vogel zusammen mit den anderen ein Detailproblem. Es geht darum, wann die Videoaufnahmen der Beispielsätze an die Dolmetscher gehen sollen. Das Gespräch verläuft äusserst lebhaft, Fragen, Antworten, Vorschläge und neue Ideen lösen einander rasant ab. Doch um die Diskussion zu verstehen, ist der Besucher auf eine Dolmetscherin angewiesen: Die gehörlosen jungen Leute unterhalten sich in der Gebärdensprache. Ihre Arme und Hände bewegen sich rasch, auch ihre Gesichtsausdrücke, Münder und Blicke verändern sich in schneller Abfolge.

Die vier gehören zum Team der Datenbank für die Deutschschweizerische Gebärdensprache, die vorerst bis zum Sommer 1500 verschiedene Gebärden lexikalisch erfassen und erläutern wird. Die Datensammlung, unterstützt vom Nationalfonds und formell beim Heilpädagogischen Seminar Zürich angegliedert, basiert auf einer komplexen Multimedia-Technologie und ist zweisprachig (Gebärdensprache/Deutsch). So wird es möglich, ein deutsches Wort in Gebärdensprache zu übersetzen, aber auch, für eine Gebärde die Entsprechung in der gesprochenen Sprache zu finden.

Daten auf Internet und CD-ROM
In der Schweiz gibt es rund 8000 bis 10 000 eigentliche Gehörlose, meist Personen, die von Geburt an hörgeschädigt sind oder ihr Gehör früh verloren haben. Dazu kommen etwa 500 000 Schwerhörige. "Unsere Arbeit soll so schnell wie möglich allen Interessierten zugute kommen", sagt die Leiterin des Datenbank-Projekts, die Psycholinguistin Penny Boyes Braem. Gedacht wird an eine Verbreitung über Internet und in Form einer CD-ROM.

Für die technische Seite der Datenbank ist der ETH-Naturwissenschafter und ausgebildete Gebärdensprach-Dolmetscher Christian Lukasczyk besorgt. Unter anderem wartet er die Computer- und Videoausrüstung und passt das Programm an die Bedürfnisse der Forschenden an. Von der Gebärdensprache, die der Nichtgehörlose vor ein paar Jahren privat kennen gelernt hat, war er so beeindruckt, dass er sich nach seiner Dissertation ganz dem neuen Gebiet widmete.

Fünf Deutschschweizer Dialekte
Eine wissenschaftlich fundierte und trotzdem praxisnahe Datensammlung für Gehörlose war alles andere als einfach. Denn es gibt keine international einheitliche Gebärdensprache. Allein in der Deutschschweiz werden fünf verschiedene Dialekte verwendet (Basel, Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich), die allerdings, so Boyes Braem, zu rund 75 Prozent identisch sind. Daneben gibt es weitere Unterschiede: Einige Gebärden werden nur von älteren Gehörlosen gebraucht, andere nur von jüngeren, Frauen benutzen teils unterschiedliche Gebärden als Männer, und wichtig für eine bestimmte Gebärde ist immer auch die Gesprächssituation.

Als Erstes stellten Gehörlose, zum Teil als Freiwillige, für die Datenbank grössere Sachgebiete zusammen, etwa die Bereiche Sport, Medizin oder Schule. Dann sammelten sie Gebärden dazu, worauf jede einzelne analysiert, in geschriebenes Deutsch übersetzt, auf bewegten Videobildern festgehalten und gezeichnet wurde. Zu jeder einzelnen Gebärde werden in der Datenbank fünf Grundinformationen abrufbar sein: Form, Bedeutung, Gebrauch, Herkunft und Satzbeispiele in Videoclips.
Für viele Gehörlose ist die Gebärdensprache ein selbstverständliches Kommunikationsmittel: Gian-Reto Janki vom Datenbank-Team.

Internationale Kontakte
"Für unser Projekt stehen wir in intensivem Austausch mit anderen Forschungszentren in der ganzen Welt", sagt Boyes Braem. Zum Beispiel mit der Universität Hamburg, die bereits ein ähnliches Vorhaben in Multimedia-Technik realisiert hat. Daneben setzt sie sich dafür ein, dass die Gebärdensprache weiter wissenschaftlich erforscht wird. Ihr heutiger Status in der Schweiz, meint Boyes Braem, sei etwa mit jenem des Rätoromanischen als Minderheitensprache vergleichbar

- das jedoch als Amtssprache anerkannt wird. Neun von zehn gehörlos geborenen Kindern haben hörende Eltern. Heute erhalten viele dieser Kinder ein Implantat, das ihr Hörvermögen auf das von stark Schwerhörigen verbessert. Hörende Fachleute plädieren deshalb dafür, bei diesen Kindern auf das Lehren der Gebärdensprache bewusst zu verzichten - sie könnten diese später ja immer noch lernen. Dagegen haben Studien gezeigt, dass nicht nur für die Lautsprache, sondern auch für die Gebärdensprache gilt: Je früher man sie lernt, desto besser beherrscht man sie.

Nicht nur für Jovita, Claudia, Gian-Reto und Brigitte ist die Sprache der Gebärden ein selbstverständliches Kommunikationsmittel. Auch bei der übrigen Bevölkerung hat das Interesse an der Ausdruckskraft und der Eleganz der Gebärdensprache seit einigen Jahren zugenommen: Allein in der Deutschschweiz haben sie bisher mindestens 5000 Hörende gelernt, und es gibt lange Wartelisten für Sprach- und Dolmetscherkurse.
Gebärdenkommunikation - Voll entwickelte Sprache

Nachdem ein französischer Priester im 18. Jahrhundert die Gebärdensprache bei gehörlosen Kindern gelehrt hatte, konnte sie sich an den Schulen in weiten Teilen Europas durchsetzen. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ihr Niedergang ein: Sie wurde in vielen Ländern verboten, darunter auch der Schweiz. Die Gebärdensprache stehe einer Integration der Gehörlosen in die Gesellschaft im Weg, hiess es. Viele von ihnen schämten sich, die auch als "Affensprache" bezeichnete Gebärdenkommunikation in der Öffentlichkeit zu verwenden. In der Wissenschaft herrschte die Meinung vor, sie sei keine entwickelte Sprache, sondern eine Art Pantomime oder bestenfalls eine Ansammlung von Gesten, die nur einfache, konkrete Zusammenhänge ausdrücken können.

Doch die linguistische Forschung, die sich, von den USA ausgehend, seit etwa 1960 mit diesem Gebiet beschäftigt, kam auf ganz andere Erkenntnisse: Die Gebärdensprache stellt eine natürliche Sprache mit einer eigenen Struktur dar. Wer sie gut beherrscht, kann sich ebenso komplex und abstrakt ausdrücken wie in der gesprochenen Sprache. Sie ist zudem mit dem Selbstverständnis der Gehörlosen und ihrer Kultur eng verbunden.

Gebärdensprache enthält wie gesprochene Sprache die wichtigsten grammatikalischen Universalien. Für die Wissenschaft ist die visuelle Sprachform deshalb von Interesse, da sich mit ihrer Hilfe Theorien über die menschliche Sprache und das Lernverhalten überprüfen lassen. Anders als im Ausland (USA, Skandinavien, Holland, Grossbritannien und Deutschland), wo sich die Gebärdensprache als Forschungsgebiet etabliert hat, ist sie an den schweizerischen Hochschulen nirgends zu finden.

Westschweiz - Einzige zweisprachige Schule

Für die Gehörlosen in der Westschweiz gibt es derzeit noch keine multimediale Erschliessung ihrer visuellen Sprache. Sie unterhalten enge Beziehungen zur Gehörlosenkultur Frankreichs, wo vor kurzem ein dreibändiges Gebärdensprach-Lexikon als Nachschlagewerk auf dem Markt erschienen ist. Eine Dolmetscherausbildung ist in der Romandie möglich, aber eigentliche Forschung wird nicht betrieben.

In mehreren Schulen und Spezialklassen der Westschweiz ist die Gebärdensprache in den Unterricht integriert. Dabei setzen sich die Klassen meist aus hörenden und gehörlosen Kindern zusammen, wobei Dolmetscherinnen eingesetzt werden; Gehörlose erhalten zusätzlichen Spezialunterricht. Als bisher einzige Schule in der Schweiz kennt das Centre Montbrillant in Genf für gehörlose Kinder einen konsequent zweisprachigen Unterricht in Gebärdensprache und Französisch.