Hochschullehrer wirft den Niederlanden vor:

"Das Verbieten der Muttersprache gehört zu den Menschenrechtsverletzungen"

Überall auf der Welt wird das Recht, die eigene Sprache zu sprechen, verletzt. "Jeder denkt bei Menschenrechtsverletzungen an Folterungen oder Vergewaltigungen, aber auch das Verbieten der Muttersprache ist eine Form der Unterdrückung. Das wird oft verkannt. Auch die Niederlande machen sich dieser Form von Unterdrückung schuldig.

Dorfman, Hochschullehrer an der Duke University in den Vereinigten Staaten, war in den letzten Tagen in Den Haag, um als Richter an dem ersten Hearing über die Unterdrückung des Rechts auf die eigene Sprache teilzunehmen. Das Hearing wurde organisiert von der People's Communication Charter, dem Institute for Social Studies und der Organisation der Lokalen Runfunksender. Fünf Sprachen wurden unter die Lupe genommen: die der Kurden, der Kreolen, der Berber, der Spanischsprechenden in Kalifornien und die Gebärdensprache der Gehörlosen.

Den Hinweis auf die Niederlande macht Dorfman bewußt. Er will damit ausdrücken, daß die Unterdrückung des Rechts auf eine eigene Sprache nicht nur ferne Länder betrifft. "Die niederländische Regierung enthält den marokkanischen Jugendlichen, die hier aufwachsen, das Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache vor. Das beruht auf Unwissenheit. Die Marokkaner sind Berber, aber Sie unterrichten sie hier in Arabisch, weil das die offizielle Sprache in Marokko ist.

Das Vorenthalten der eigenen Sprache ist Dorfman zufolge eine der Ursachen der Probleme mit den marokkanischen Jugendlichen. "Sie müssen sich vorstellen, daß tausend niederländische Jugendliche nach China umziehen und dort in Chinesisch und Deutsch unterrichtet werden. Was würden diese niederländischen Jugendlichen tun? Einen Aufstand machen, natürlich.

Das sieht Dorfman auch in Kalifornien geschehen. Dort gilt seit kurzem die Vorschrift, daß Kinder an den Schulen nicht mehr zweisprachig unterrichtet werden. Die meisten von ihnen sprechen Spanisch und werden in der Schule total ins Englische eingetaucht. Das soll ihnen bessere berufliche Aussichten verschaffen. "Ich empfinde das als sehr gefährliche Entwicklung. Damit wird eine andere Sprache als minderwertig abgetan. Ich denke, daß solch eine Regel aus der Angst heraus entsteht. Aus der Angst, seine Identität zu verlieren.

Dorfman zufolge schneiden sich die Amerikaner damit ins eigene Fleisch. "In hundert Jahren spricht Lateinamerika Spanisch und Englisch. In den USA spricht man dann nur noch Englisch. Das sieht man in der Geschichte aller Großmächte: bei den Römern, den Griechen usw.

Dem Abschlußbericht Dorfmans und seiner vier Richter-Kollegen zufolge hört jeden Tag jemand damit auf, seine Muttersprache zu sprechen. Von den tausenden von Sprachen in der Welt sind 90% vom Aussterben bedroht. "Heute sind wir uns der Vielzahl der verschiedenen Sprachen bewußter als vor hundert Jahren. Aber wegen der Globalisierung vermindert sich die Anzahl schnell."

Dorfman zufolge verschwindet mit den Sprachen die Kenntnis von der Geschichte der Erde. "Niederländisch beinhaltet die Kenntnis des Wassers, im Amazonasgebiet besitzen die Wörter die Kenntnis des Urwalds. Vernichtet man diese Sprachen, vernichtet man auch einen Schatz an Weisheit."

Aus "Volkskrant" vom 4.5.99
Übersetzung: Bernd Rehling