Liebe und Glück brauchen nicht immer Worte

Bericht über eine gehörlose Familie (Simon und Rosi Kollien, Hamburg) in der Fernsehsendung "Brigitte-TV" am 28.3.98

Der Bericht war für Hörende sicherlich informativ und hat das Image der Gehörlosen ein wenig aufpoliert. Leider gab es jedoch weder Untertitel noch Dolmetschereinblendungen, so daß die gehörlosen Zuschauer leer ausgingen. Hier deshalb der Text der Sendung, ergänzt durch einige Schnappschüsse.

[Moderatorin:] Wenn Sie Kinder haben, dann kennen Sie sicherlich solche Sätze: "Muß ich mir immer den Mund fusselig reden?" "Du fragst mir ein Loch in den Bauch!" "Wo ist bloß der Knopf zum Abschalten?" In tausenden von deutschen Familien werden genau solche Sätze nicht gesprochen und auch nicht gehört, denn sie sprechen die Sprache der Gehörlosen, die Gebärdensprache. "Mami, ich hab dich lieb!" - Diesen Satz wird Rosi von ihren Kindern nie hören können.

[Sprecherin im Off:] Viel spricht der dreijährige Aron nicht, doch das ist normal, denn er wächst zweisprachig auf: Deutsch und Gebärdensprache. Rosi, seine Mutter, ist von Geburt an gehörlos. Sie ist begeisterte Schauspielerin und war Star des Hamburger Gebärdentheaters. Jetzt ist sie ganz für ihre beiden Kinder da. Aron kann hören, aber seine kleine Schwester Elaine ist gehörlos. Die Taubheit der Familie ist genetisch bedingt, allerdings rezessiv, d.h. nicht jedes ihrer Kinder ist automatisch betroffen. Sie leben wie tausend andere Familien auch.

[Aron klappert mit Löffeln auf dem Tisch.] Der alltägliche Lärm kann Rosi nicht aus der Ruhe bringen. Aron ist für sie aber nicht nur als temperamentvoller Dreijähriger eine Herausforderung. [Rosi gebärdet:] "Ich kann das essen, aber du nicht." Er ist eine Brücke zu einer unbekannten Welt, dem Reich der Hörenden. [Rosi legt eine Audiocassette ein und fragt Aron:] "Was ist das für Musik?"

"Ich wußte halt überhaupt nicht, was da so drauf ist. Und neulich war ich in einem Buchladen, und da hab ich zufällig dieses Buch herausgezogen, mein allererstes Kinderliederbuch. Ich dachte, das paßt doch für uns als Gehörlose ziemlich gut. Wir gebärden dann für Aron die Texte, und beide Kinder gucken ganz gespannt zu.

Simon ist Diplompsychologe und arbeitet als Lektor im Gebärdensprachzentrum der Hamburger Universität. Hier gibt er Kurse, z.B. über Poesie in der Gebärdensprache, und er entwickelt neue Gebärden. Als einer der ersten gehörlosen Psychologiestudenten hatte er ein Problem. Viele Fachausdrücke gab es in seiner Sprache noch gar nicht. Jetzt hat er ein "Gebärdenlexikon Psychologie" geschrieben, als Buch und als Nachschlagewerk für das Internet. [Simon:] "Zum Beispiel das Thema Magersucht. Da gibt es diesen Fachbegriff, Anorexia nervosa, das ist dieser hier."

Während Simon sich mit Magersucht beschäftigt, geht Rosi mit den Kindern auf den Markt. Rosi ist Kind gehörloser Eltern. Deshalb ist sie Sprechen nicht gewohnt und fühlt sich etwas unsicher. Aber zum Einkaufen reicht's. [Verkäufer:] "20 Pfennig dabei? 20 Pfennig?" Die Frage liest sie von den Lippen ab.

Im Alltag ist alles geregelt. Wenn Simon mittags anruft, nimmt er das Schreibtelefon. Lichtblitze signalisieren Rosi: Es klingelt. Und sie tippt die klassische Frage: "Hallo, hier Rosi. Wann kommst Du heute?"

[Aron spielt mit dem Staubsauger.] Lärm stört nicht. Aron ist immer auf der Suche nach akustischen Reizen. Was für ihn die Ohren sind, sind bei Elaine die Hände. [Aron gebärdet:] "Habt ihr Angst?" [Rosi:] "Nein, das ist nur so ein komisches Gefühl. Das kennt sie nicht."

Still ist es sogar bei der abendlichen Knuddelstunde, wenn die ganze Familie zusammen sitzt. Aron gebärdet schon richtig flüssig. Bei Elaine ist es noch ein ziemliches Gebrabbel. [Simon:] "Papa, Papa, das gebärdet sie ganz oft. Das war auch ihre erste Gebärde. Manchmal gebärdet sie auch 'Ball', aber sie macht halt so etwas Flüchtiges, und klatscht in die Hände und freut sich dann. Das ist so ein Mischmasch. Man sieht dann nicht, ob sie die Gebärde macht oder sich einfach nur freut."

Heute abend kommt die Oma zum Babysitten. [Jeannette Kollien singt ein Kinderlied.] Rosi und Simon nutzen die Zeit zu zweit. Sie gehen in die Disco, denn Rosi liebt Musik. Beide fühlen sich wohl, und das nicht nur, weil hier auf einmal alle gebärden müssen. [Rosi:] "Ja, es ist schön. Also, es ist so ein bestimmter Rhythmus da, irgendwie ein schönes Gefühl. Da ist so ein Beat, ja, wie soll ich das beschreiben? Als ob es Trommeln wären."

Kräftig und doch melodiös. Beide spüren die Vibrationen. Und hier auf der Tanzfläche stimmt dann einfach alles. [Simon und Rosi küssen sich beim Tanzen.]

[Moderatorin:] Liebe und Glück brauchen nicht immer Worte.