Thomas Günzel. Theologe

Berufsbildungswerk (BBW) Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte gGmbH

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Fahrt in die Vergangenheit - Mit gehörlosen Jugendlichen in Auschwitz

 

31 gehörlose, schwerhörige und sprachgeschädigte Jugendliche beendeten am Sonntag (17.10.99) ihre „Fahrt in die Vergangenheit“, die sie für vier Tage nach Auschwitz und Krakow führte. Gemeinsam mit sechs Mitarbeitern des Berufsbildungswerkes Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte suchten sie nach den Spuren der Vergangenheit. An der Stätte des Grauens, im Vernichtungslager von Auschwitz, wurden nicht nur Gehörlose und Hörende, mit den Händen Gebärdende und mit der Stimme Sprechende stumm. Auch die gebärdenden Hände, das Kommunikationsmittel der Gehörlosen, blieben oft wie hilflos in der Luft hängen. Wer wollte die Wucht dieser Verbrechen mit Worten oder Gebärden erklären oder verstehen? So hatten die Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun. Mit Hilfe von Filmen mit Untertiteln, durch Erklärungen in Gebärdensprache und Anschauung wurde versucht zu erläutern, was nicht zu verstehen ist.

 

Insgesamt sechs Stunden verfolgte die Gruppe konzentriert die Erläuterungen der Mitarbeiter in der Gedenkstätte von Auschwitz. Während im „Stammlager“ (Auschwitz I) vor allem die Berge von Hinterlassenschaften der Opfer (Brillen, Prothesen, Koffer usw.) und die zahllosen Fotos ehemaliger Häftlinge schockierten, war am zweiten Tag die Größe des Außenlagers Birkenau (Auschwitz II) bestürzend. Im strömenden Regen wurden die Baracken des Lagers und die Ruinen der Gaskammern besichtigt. Stundenlang erlief sich die Gruppe eine Ahnung vom Umfang des Leides, das jüdische und andere KZ-Häftlinge aus ganz Europa hier erleben mußten und das die meisten von ihnen nicht überlebten.

 

Am tiefgreifendsten aber waren die drei Stunden, die die Jugendlichen gemeinsam mit Halina Birenbaum verbrachten. Die 70jährige Jüdin, in Warschau geboren, lebt heute in Israel. Von 1943 bis 45 war sie in Auschwitz gefangen und überlebte, wie durch eine Folge von Wundern, das unsägliche Martyrium. Es war ein Geschenk, dass sie gerade in dieser Woche in Polen weilte und einen Vormittag Zeit für die gehörlosen Jugendlichen hatte. Die wesentlichen Momente ihres Leidensweges erzählte sie in bewundernswerter Offenheit. Sie schonte weder sich selbst, noch die Jugendlichen. „Weinen mit Euch allen war die größte Erleichterung“ schrieb sie der Gruppe zur Erinnerung in ihr Buch „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Die meisten der Jugendlichen möchten das Buch nun selbst besitzen. Mehrfach waren die Mitarbeiter, die den Bericht von Frau Birenbaum in Gebärdensprache übersetzten, am Ende ihrer emotionalen Kraft. Um so eindrücklicher werden diese Stunden allen im Gedächtnis haften bleiben.

 

Auch die Frage der Sterilisation und Vernichtung von behinderten Menschen blieb nicht ausgespart. Auf einmal waren fast alle selbst Betroffene! Doch neben der fast pausenlosen Beschäftigung mit der Frage, warum gerade die Juden so völlig vernichtet werden sollten und weshalb es gerade Deutsche waren, die diese Verbrechen begingen, sollte die „Fahrt in die Vergangenheit“ auch neue Wege in die Zukunft weisen. Möglicherweise noch im November soll eine Projektwoche mit künstlerisch begabten, gehörlosen Jugendlichen aus Krakow und Leipzig stattfinden. Und sicher wird dies nicht die letzte Fahrt nach Auschwitz werden, die Jugendliche aus dem Berufsbildungswerk Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte unternehmen. Die Teilnehmer der diesjährigen Fahrt, fast alles Lehrlinge im 3. Lehrjahr, sind sich sicher, dass auch ihre Freunde in den anderen Lehrjahren ähnliche Eindrücke gewinnen wollen.

 

Daneben war die Fahrt nach Auschwitz möglicherweise der Beginn einer Partnerschaft zwischen dem Berufsbildungswerk in Leipzig und einer berufsbildenden Schule in Leipzigs Partnerstadt Krakow. Die Krakower Einrichtung für Gehörlose hat ein ähnliches Profil wie das BBW Leipzig. Die Gruppe wurde vom Direktor und seinen Mitarbeitern herzlich begrüßt und trotz eines verlorenen Volleyball-Spieles waren die Kontakte zwischen polnischen und deutschen Jugendlichen sofort hergestellt. Die Gebärdensprache erwies sich als Brücke der Verständigung und mehrfach wurde gefragt, wann die polnischen Jugendlichen zu Gast in Leipzig sein werden.

 

So besteht die begründete Hoffnung, dass die beteiligten Jugendlichen eine neue oder vertiefte Sicht zu Fragen der Mitmenschlichkeit und der Verständigung über Länder-, Sprach-, Behinderungs- und Religionsgrenzen hinweg gewonnen haben. Die Idee zur Fahrt entstand übrigens bei der Behandlung des Themas Judentum und Antisemitismus im Religionsunterricht am Berufsbildungswerk. Die Möglichkeit der Teilnahme hatten alle Auszubildenden des dritten Lehrjahres, gleich, ob sie am Religions- oder Ethikunterricht teilnehmen. Es war nicht verwunderlich, dass an den täglichen, freiwilligen Andachten mehr Jugendliche beteiligt waren, als beim Religionsunterricht. Die (christlichen) Andachten liesen etwas von der spirituellen Kraft des jüdischen Volkes anklingen. Insbesondere die Psalmen, also Lieder und Gebete des alten Israels, sollten ein Angebot für die Jugendlichen sein, mit ihren eigenen Fragen und Gefühlen umzugehen und eine Lebensgrundlage für die eigene Zukunft zu finden.

 

Informationen zum Berufsbildungswerk Leipzig

für Hör- und Sprachgeschädigte gGmbH (BBW):

 

Seit 1991 besteht das BBW in Leipzig. Träger der gGmbH sind die Stadt Leipzig, die „Paulinenpflege Winnenden“ und die „Innere Mission Leipzig e.V.“. Heute lernen hier über 400 Jugendliche einen von rund 25 Berufen oder absolvieren eine berufsvorbereitende Maßnahme. Dabei werden sie in der meist dreijährigen Ausbildungszeit von Lehrern, Ausbildern, Psychologen, Logopäden, Sozialpädagogen und Erziehern in besonderer Weise unterrichtet, ausgebildet und begleitet. Die meisten wohnen während dieser Zeit im Internatsbereich des BBW. Als Mitglied des Diakonischen Werkes Sachsen steht das BBW Leipzig allen Jugendlichen mit einer Hör- oder Sprachschädigung zur Verfügung. Zugleich bemüht es sich, in einer offenen Atmosphäre diakonisches Profil zu zeigen. Geschäftsführer seit 1991 ist Herr Hans-Joachim Richter.

 

Für weitere Informationen stehe ich gern zu Ihrer Verfügung. Zum BBW finden Sie Bilder und weitere Informationen auch im Internet (www.bbw-leipzig.de). Die Fahrt nach Auschwitz soll mit zahlreichen Fotos, Bildern, Videoaufnahmen und Texten der Jugendlichen dokumentiert werden. Leider stehen im Moment noch keine Fotos zur Verfügung.