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  S  T  E  R  N  -  A  R  C  H  I  V

Dokument 1 von 1 I
Quelle: STE I Ausgabe: 2 I 05-01-2000 I Seite: 128 I Autor/in: *Stefan Draf*

 
Stille Post
 
Mit einer INTERNET-AKTION will Susan van der Leent-Sturhan Untertitel für Gehörlose im Fernsehen durchsetzen
 
Und so sieht das Internet aus: Zwei Hände, Mittelfinger abgespreizt, bewegen sich sanft drehend aufeinander zu, bis sich die Spitzen der Finger treffen. "E-Mail" geht so: Daumen und Zeigefinger der rechten Hand bilden einen Kreis, dann bewegt sich die Hand schnell auf die andere zu. Wird von der am Gelenk gepackt, dabei öffnet sich der Fingerkreis, und man kann fast sehen, wie die Mail quer durch den Raum fliegt, vorbei am 16:9-Bildschirm, vorbei am Tisch mit den fünf Fernbedienungen, an der Tür abprallt und direkt in Susans strahlendem Gesicht landet.

Und fast wie verabredet hört die 21-jährige Gehörlose jetzt auf zu lachen und trampelt auf den Boden - das Zeichen für ihren Freund und Gebärdendolmetscher Kerki, endlich mal wieder zu ihr und ihren Händen zu gucken, damit sie diese unglaubliche Geschichte vom Arbeitsamt erzählen kann. Da kam sie angestiefelt, 18 Jahre alt, den Abschluss von der Gehörlosenschule in der Tasche und einen Berufswunsch im Kopf: Webdesignerin. "Nööö", sagte die gar nicht freundliche Dame vom Arbeitsamt, das würde nichts. Nicht mit den Noten. Und dann noch als Gehörlose. Nein: Susan van der Leent-Sturhan solle Köchin werden. Wenn sie diese Geschichte erzählt, werden ihre Gebärden erst schneller, dann härter, schließlich abgehackt.

Dass Susan die Kochlehre durchzog und sich nebenbei die Grundlagen des Web-Designs beibrachte, zeigt die Kraft, die in der schmalen Blonden mit der Modelfigur steckt. Eine Energie, mit der sie als 17-Jährige Europameisterin im Kickboxen wurde, nach nur sechs Monaten Training und natürlich bei den Hörenden. Eine Energie, die ihr auch half, ihren Hund "Joker" zum wohl einzigen Abkömmling einer Kampfhundrasse zu erziehen, der Gebärdensprache versteht. Und auf Fingerschnippen hin Türen öffnet.

Dass sich im Internet eine neue Kommunikationswelt für sie aufgetan habe, weist Susan zunächst von sich. Früher, da habe es Fax gegeben. Und ein Bildtelefon habe sie auch. "Ich habe damals schon geredet." Aber E-Mail hat für Gehörlose unbestreitbare Vorteile: Erstens wird gelesen und nicht gehört. Zweitens fällt im schlampig geschriebenen E-Mail-Talk Susans eklatante Rechtschreibschwäche nicht so auf, drittens kann man bei der Elektro-Post jeden Halbsatz mit digitalen Gebärden, den "Emoticons", untermauern - :((( steht dann für richtig schlechte Laune, :))) für Hochstimmung.

Die hat sie oft, denn das Internet hat sie aus der stillen Isolation ihrer Zweizimmerwohnung in Osnabrück befreit: Seit etwa einem Jahr betreibt sie die viel besuchte Internet-Site www.deafplanet.de, eine Gedankenbörse für Gehörlose - inzwischen trudeln auch Mails aus Australien ein. Genauso lange ist sie schon Cybermodel (www.cyber-girl.de). Unter dieser Adresse hat Susan Bilder von sich ins Netz gestellt und dafür ihre Wohnung mit diversen Webcams vermint, die jede Bewegung aufzeichnen. Wer zu Besuch kommt, kann ziemlich sicher sein, ein paar Tage später in der weiten Webwelt aufzutauchen.

Das Internet soll Susan nun auch bei der Verwirklichung ihres größten Vorhabens helfen, der kompletten Untertitelung aller Fernsehfilme. "Überall" - entschiedene Handzeichen begleiten diesen Vortrag - "können Gehörlose mehr untertitelte Filme im Fernsehen sehen als in Deutschland." Um für IPU (Initiative Pro Untertitel) 500 000 Unterschriften zu sammeln und sie schließlich ins deutsche Parlament zu bringen, will Susan auf ihrer neuen Webpage (www.camgirl.de) einen Mitgliederbereich einrichten. Für 35 Mark Jahresbeitrag dürfen sich Susan-Fans die Bilder ihrer Duschkamera anschauen. Die steht im Badezimmer und filmt Susan, wenn sie in der Unterwäsche vorm Schminkspiegel steht. Pornographie? "Ach Quatsch", wehrt sie ab, bekannt machen müsse man sich und sein Vorhaben, so sei das nun mal im Netz und wohl auch anderswo. Immerhin haben ihr schon die Kussmund-Bildchen diverse Webdesign-Aufträge gebracht, und die zukünftigen Arbeitgeber wissen dann auch gleich von ihrer Behinderung. "Dass sie gut ist, konnte ich schon auf ihrer Website sehen", sagt Tassillo Rau, Auftraggeber und Besitzer einer Kölner Webdesign-Agentur, "aber ich habe sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Läuft alles per E-Mail."

Und dann hat sich vor einigen Wochen noch jemand gemeldet: ihre Mutter. Susan war mit 17 einfach abgehauen und hatte Mama mitsamt Stiefvater in Bad Oeynhausen sitzen lassen. Ein Abschied der bitteren Sorte, "ist aber nicht mehr so wichtig", sagt Susan, und ihre Hände bleiben fast teilnahmslos im Schoß liegen. Jetzt hat die Mutter ihr mitgeteilt, dass sie die Internet-Site gesehen habe und sehr stolz auf ihre Tochter sei. Das Schreiben kam nicht im Umschlag, sondern im Computer an. Als E-Mail. Vielleicht wird Susan antworten.

Site des Gehörlosen-Bundes: www.gehoerlosen-bund.de; Institut für Gebärdensprache: www.sign-lang.uni-hamburg.de; Deutsche Abteilung des internationalen Gehörlosen-Forums: dww.deafworldweb.org/int/de; Kontakt für Gehörlose: www.taubenschlag.de

Bildunterschrift: ZEICHEN-SPRACHE Die Gehörlose Susan demonstriert die Gebärden für "E-Mail", "Webpage" und "Internet" /

Fotonachweis: JÖRG FOKUHL


 

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